65 Umzugskartons wurden Anfang März 2020 aus der Heidelberger Hirsch-Apotheke in das Museumsdepot geliefert – mit einem zuvor ausgewählten repräsentativen Querschnitt der Gefäß- und Geräteausstattung der Apotheke des 19. und 20. Jahrhunderts. Mit dem Inventar, das der Besitzer Apotheker Dr. Albert Borchardt als Schenkung dem Museum übereignete, ist eine große Bandbreite an Gefäßen, Gerätschaften und Aufzeichnungen erhalten, die teils bis in die Zeit der Standortverlegung und Neuausstattung 1861 zurückreichen. Das vielfältige Konvolut lässt umfassend auf das Apothekengeschehen von dieser Zeit an bis heute blicken.
Serien, Unikate und Lehrstücke
Vor allem die Gefäßausstattung macht die Zeit der Hirsch-Apotheke ab 1861 anschaulich: Über 100 hochwertige Porzellangefäße tragen eine dekorative Goldrandverzierung.
Mehr als 200 Glasgefäße mit handgeschliffener Facettierung lassen anhand von Glasfarbe und Aufschriften den Aufbau der Gefäßserie bis etwa 1926 mit der Einführung der 6. Ausgabe des Deutschen Arzneibuches (DAB 6) verfolgen: Die frühen Facettenschliffgläser wurden noch aus Weißglas gefertigt, doch in den folgenden Jahren wurden in der Apotheke vermehrt auch braune Gläser angeschafft, entsprechend den immer neuen Aufbewahrungsvorschriften – etwa die Lagerung lichtempfindlicher Materialien wie bspw. Tinkturen in gefärbten Gefäßen aus Braun- oder Rubinglas. Die Gefäße aus der Offizin tragen eine Goldrandkartusche mit schwarzer Schrift. Gefäße mit roter Schrift (und goldenem oder rotem Rand) stammen aus dem Bereich der „Separanda“. Schließlich ließ Albert Borchardt nach Übernahme der Apotheke (circa 1978) weitere Braunglasgefäße im selben Stil nachfertigen. Vervollständigt wird der Gefäßbestand durch zahlreiche Zylinderflaschen mit querovalem umrandetem Schild für die Bevorratung im Arzneikeller und Blechdosen mit bestens erhaltener Holzimitat-Farbfassung zur Lagerung der Rohdrogen. Hinzu kommt ein nahezu vollständig erhaltener Reagenziensatz.
Die Gerätschaften dokumentieren wesentliche Vorgänge in den Apotheken aus den letzten 150 Jahren. Neben Rezepturgeräten sind dies zahlreiche Apparaturen aus der Arzneimittelprüfung und Herstellung im Labor. Erwähnenswert sind etwa eine gut erhaltene Mohr’sche Waage mit Erwerbs- und Reparaturvermerken ab 1879 sowie ein „Großes Seibert-Mikroskop“ der Firma Seibert (Wetzlar) aus der Zeit um 1898. Die optischen Geräte der Gebrüder Seibert hatten hohes Ansehen in der Wissenschaft, so sind viele der bakteriologischen Erkenntnisse von Robert Koch mittels eines solchen Mikroskops entstanden.
Chronologische Serien und Prototypen von Gerätschaften, die Borchardt für die Ausbildung in der Apotheke und für die pharmaziegeschichtliche Vorlesung in vielen Jahren zusammen-getragen hat, lassen die Entwicklung von Formen und Materialien vieler Gerätschaften nachvollziehen: zum Beispiel von Zäpfchen- und Globuli-Pressen, Tubenfüllapparaten, Reibschalen und Waagen.
Ein Polarisationsapparat mit massivem Eisengestell, gefertigt von Zeiss-Winkel in Göttingen, lässt sich durch die Seriennummer auf das Jahr 1946 datieren. Zur Beleuchtung war das Gerät mit einem Stromanschluss versehen. Die Schiene zum Einlegen von Beobachtungsröhren bis zu 26 cm Länge hat einen klappbaren Verschlussdeckel. Die beiden Enden mit den jeweiligen Beobachtungsmedien wurden von Borchardt nachträglich zu Demonstrationszwecken aufgesägt: so konnte in der Lehre und Ausbildung die Funktionsweise des Gerätes optimal erläutert werden.
Ein besonderes, farbenfrohes Stück ist eine Kapsel-Mustersammlung, das »Kapsel-Kompendium« der Firma R.P. Scherer GmbH in Eberbach (Baden) aus den Jahren um 1970-80. Eine Broschüre informiert über das Leistungsspektrum in der Herstellung von Weichgelatine-kapseln. Bis heute werden solche nach dem 1933 durch Robert Pauli Scherer (1906-60) patentierten „Rotary-Die-Verfahren“ (rotierende Walzen) produziert. Dieses auch „Scherer-Verfahren“ genannte Prinzip erlaubte erstmals die Produktion von Weichkapseln aus Gelatine im großen Maßstab und hatte großen Erfolg. Noch im selben Jahr der Patentanmeldung gründete Scherer seine eigene Firma in den USA, in den Folgejahren Niederlassungen in Kanada und Großbritannien sowie nach dem zweiten Weltkrieg auch in Deutschland.
Vielfältig sind schließlich auch die Archivalien aus der Apotheke. Neben Eingangsbüchern, Rezeptjournalen und Betäubungsmittelbüchern sind vor allem das Findbuch der Apotheke sowie Protokolle und Korrespondenz, etwa zu Beanstandungen aus der Prüfung von Arzneimitteln und Betäubungsmitteln, hervorzuheben.
Die Hirschapotheke in Heidelberg
Die Gründung der traditionsreichen Heidelberger Hirsch-Apotheke lässt sich nur ungefähr auf das Ende des 17. Jahrhunderts datieren – nach der Zerstörung der Stadt durch den großen Brand 1693 im Zuge des Pfälzischen Erbfolgekrieges. Der erste Standort lag nahe zur Universität im Bereich der hinteren Hauptstraße. Im 19. Jahrhundert war durch weitere Apothekengründungen in der Nähe eine starke Konkurrenz angewachsen, sodass eine Verlegung angeraten war. 1861 bezog der Apotheker Georg Heinrich Bücking das Gebäude Nr. 26 in der vorderen Hauptstraße und nannte sie ab da „Apotheke zum Goldenen Hirsch“. Markantes Zeichen am Haus war ein großer vergoldeter Hirschkopf aus getriebenem Metall mit stolzem Geweih. Mit der Erweiterung des damals benachbarten Anker-Kaufhauses stand unter Apotheker Hans Wolff um 1965 eine erneute Verlegung an. Wenige Häuser weiter am Standort Hauptstraße 20 bestand sie als „Hirsch-Apotheke“ bis Anfang 2020. Für die Kaufhaus-Erweiterung wurden damals Teile des Hauskomplexes abgerissen und beim Umzug auch Elemente des Apothekeninventars ersetzt. Unter den von Wolff wohl nicht mehr gewollten Stücken war auch das Apothekenwahrzeichen aus dem 18. Jahrhundert, der goldene Hirsch! Der damalige Leiter des Deutschen Apotheken-Museums, Werner Luckenbach, sah das Geweih aus dem Abfallcontainer ragen und rettete das Wahrzeichen kurzerhand ins Museum. Heute glänzt der Hirsch über dem Themenbereich »Apothekenwahrzeichen« in der Dauerausstellung.
1977 pachtete Dr. Albert Borchardt die Heidelberger Hirsch-Apotheke. Als Pharmaziehistoriker hatte er vom selben Jahr an für nahezu 40 Jahre den Lehrauftrag für Pharmaziegeschichte an der Universität Heidelberg inne und ist seit 1987 zunächst als stellvertretender Kurator und seit 1997 als Beratender Apotheker dem Deutschen Apotheken-Museum eng verbunden. Als Pharmaziehistoriker und Apotheker durch und durch bewahrte er in der Hirsch-Apotheke nicht nur vieles aus dem früheren Apothekenbestand und ergänzte es sachkundig, sondern sammelte auch gezielt Gerätschaften aus Rezeptur und Labor, um die Entwicklung von Herstellungstechniken zu dokumentieren. Vieles davon hat er nach der endgültigen Schließung der traditionsreichen Hirsch-Apotheke Heidelberg zum 1. Februar 2020 dankenswerterweise vorbildlich geordnet und mit wertvollen Hintergrundinformationen in den Museumsbestand übergeben. Mit dem sehr gepflegten Inventar aus der Hirsch-Apotheke konnten einige Lücken im Sammlungsbestand des 19. und 20. Jahrhunderts geschlossen werden.
Text: Claudia Sachße
Literatur und Quellen
Walter Donat, Die Geschichte der Heidelberger Apotheken (1912) 112–118.
Elisabeth. Huwer, Albert Borchardt zum 70. Geburtstag, in: Deutsches Apothekenmuseum, Suppl. zur Pharmazeutischen Zeitung, 159 (2014) Heft 33, S. 17.