... telegrafierte am 13. Mai 1928 eine Gruppe von 22 Apothekerinnen und Apothekern aus New York an die Apotheker-Zeitung – nach zehn Tagen Überfahrt mit dem Dampfer „München“.
Unter den Neuzugängen im Bestand war 2021 ein Konvolut von Filmaufnahmen, Aufzeichnungen, Broschüren und Fotografien, die eine mehrwöchige Studienreise deutscher Apotheker in die USA im Mai und Juni 1928 dokumentieren.
Die vielfältigen Quellen aus dem Nachlass des Reiseteilnehmers Felix Gruschwitz (1878 – 1951), Verwalter der Engel-Apotheke Darmstadt, gewähren detaillierte Einblicke in diese einzigartige Reise (Inv.-Nr. VII A 2293, 2313–2321, VII C 1056-1057, IX A 223). Eine Enkelin von Gruschwitz übergab die Bestände dem Deutschen Apotheken-Museum.
Der Deutsche Apotheker-Verein organisierte die Studienreise durch die USA zusammen mit der Reederei des Norddeutschen Lloyd. Sie führte die Gruppe mehr als drei Wochen durchs ganze Land. Der Norddeutsche Lloyd hatte für andere Berufsgruppen bereits solche Studienreisen angeboten, jedoch war es die erste dieser Art für Pharmazeuten.
Die Apotheker-Zeitung (AZ) schrieb die Reise aus und informierte regelmäßig über Bewerbungsmöglichkeiten, den Planungsstand und den Verlauf der Reise. 100 Platze wurden angeboten; die Veranstalter rechneten mit einer „bedeutenden“ Teilnehmerzahl – das Interesse schien groß. Doch die Mindestzahl von 20 Reiseteilnehmern wurde mit 22 nur knapp erreicht. Die fast siebenwöchige Abwesenheit von der eigenen Apotheke – vom 3. Mai bis 17. Juni mit je zehn Tagen Schiffsreise – und die damit verbundenen Ausfall- und Reisekosten hielten wohl doch manche von der Reise ab (AZ 1928, 325, 560f.).
Prominente Reiseteilnehmer
Unter den Reisenden waren Apothekenbesitzer und -besitzerinnen sowie angestellte Apotheker aus dem gesamten deutschen Raum. Allein aus Berlin kamen sieben Apotheker. Vertreter der Organisatoren war Dr. Hans Meyer (1895 – 1977), Schriftleiter der Apotheker-Zeitung und bis 1935 Generalsekretär des Deutschen Apotheker-Vereins. Danach aus politischen Gründen aller Ämter enthoben, wurde Meyer in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer herausragenden Persönlichkeit in der Fachpolitik (Abbildung 1).
Während der Reise fungierte Dr. Wilhelm Wartenberg (1868 – 1942, Rothe Apotheke Berlin) wohl als Leiter und Sprecher der Gruppe. Er war einer der ämterreichsten Fachpolitiker seiner Zeit und Mitglied der Kommission zur Bearbeitung der Spezialitätentaxe des Deutschen Apotheker-Vereins. 1933 verlor auch er all seine Ämter.
Auch zwei weitere Apotheker durften ihren Beruf aus politischen Gründen bald nicht mehr ausüben. Max Friedländer war 1911 bis 1934 Besitzer der Hohenzollern-Apotheke in Spandau-Wilhelmstadt. Er starb 1943 im Lager Großbeeren. Julius Siegmann (1873 – 1944), Inhaber der Privilegierten Adler-Apotheke in Spandau, wurde 1943 nach Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz umgebracht.
Mehrere Teilnehmer kamen aus dem niederschlesischen Breslau (Wrocław), darunter mit Dr. Eva Jablonski und Margarete Lichtenstein auch die beiden einzigen Apothekerinnen in der Gruppe (Abbildung 2). Auch der Apothekergehilfe Fritz Domschke aus Chemnitz war unter den Reisenden. Er bezog auf dem Schiff als einziger der Reisegruppe keine eigene Kajüte, sondern ein Bett in einer preiswerteren Touristenkabine (Bremen Passenger Lists).
„5000 Kilometer Hetzjagd“
Vor und während der Rundreise erschienen zahlreiche Berichte in der Apotheker-Zeitung sowie in der amerikanischen Fach- und Tagespresse. Es bestand Korrespondenz unter anderem mit Hugo Kantrowitz, Leiter der Europareisen deutsch-amerikanischer Apotheker und Schriftleiter der New Yorker Apotheker-Zeitung. 1925 hatten amerikanische Apotheker bereits Europa und Deutschland besucht (AZ 1928, 158), so dass hier reges Interesse an einem Kontakt bestand.
Die Gruppe wurde mit einem dicht gepackten Programm und zahlreichen Veranstaltungen empfangen, organisiert von Fachgesellschaften, Betrieben und Vereinen. Die Seereise, Besichtigungen der Großstädte und fachlichen Einrichtungen sowie Naturziele hinterließen bei den Teilnehmern nachhaltigen Eindruck: „Es ist schwer zu sagen, was auf den Teilnehmer an der Studienfahrt …, der in knapp 3 ½ Wochen rund 5000 Kilometer … zurückgelegt hat, den größten Eindruck gemacht hat, der auf dieser Hetzjagd New York, Philadelphia, Washington, Cincinati, St. Louis, Chikago, Milwaukee, Detroit, Niagara-Fälle, Boston und wieder New York besucht hat und der fast jeden Tag ein bis zwei Festessen und ebenso viel Empfänge zu überstehen hatte“ (Inv.-Nr. VII A 2315, 5) (Abbildung 3).
Ziel der Reise war zum einen, das System des amerikanischen Apothekenwesens kennenzulernen. Dazu gehörten Apotheken mit reinem Rezepturgeschäft, die eigentlichen „Drugstores“ mit breiterem Sortiment sowie die Filialen der damals bereits gängigen „Chain-Drugstores“, die nur selten Rezepturen anfertigten. Auch die Arbeitsweise und Ausbildung der amerikanischen Apotheker wurden vermittelt. Hervorgehoben wurde die – im starken Kontrast zum damaligen deutschen Konzessionssystem stehende – absolute Niederlassungsfreiheit innerhalb eines Bundesstaates sowie das Fehlen von Krankenkassen und Arzneitaxen. Die Gesetzgebung der Prohibition verlagerte zudem den Verkauf von Alkoholerzeugnissen in die Apotheken – unter strenger Reglementierung. Auch die Besichtigung von Universitäten war wesentlicher Teil der Reise.Zudem standen zahlreiche pharmazeutische und andere Betriebe auf dem Programm:
• in New York das chemische Institut der Columbia University, das neu errichtete Medical Centre und die Chemischen Werke von Lehn & Fink in Bloomfield (Abbildung 4);
• in Philadelphia das College of Pharmacy and Science, die biologischen Anstalten der H. K. Mulford Vaccine Laboratories in Glenolden – die größte Einrichtung der USA zur Antitoxin-Produktion mit großen Stallungen zur Gewinnung tierischer Blutsera gegen Tetanus, Diphtherie und Schlangenbisse sowie Pockenvakzine;
• in Cincinnati die Fabrik pharmazeutischer Spezialitäten von William Merrel Co., die mit 60.000 Bänden weltweit größte pharmazeutische Bibliothek von Professor Lloyd, die Seifenfabrik von Procter & Gamble, die Mallinckrodt Chemical Works mit der Herstellung von Chemikalien wie Morphium und Pyrogallo, das College of Pharmacy sowie die Pharmazeutische Großhandlung Meyer Brothers Drug Store Co.;
• in St. Louis eine der landesweit größten Schlachtereien (Swift & Co.);
• in Chicago die Konservenfabrik von Libby, McNeill and Libby und
• in Detroit die Henry-Ford-Werke sowie die Chemischen Werke von Parke, Davis & Co., wo es nochmals um die Gewinnung von Sera aus dem Blut von Pferden ging (Abbildung 5).
Einzigartige Filmaufnahmen
Vermutlich im Auftrag von Felix Gruschwitz oder von ihm selbst wurde die Reise mit Filmaufnahmen begleitet. In 73 Minuten Länge zeigt ein im Museum in Kopie aufbewahrter Stummfilm den Antritt der Reise an Bord der „München“, das Leben auf dem Schiff, die ersten Tage in New York (hier der 1924 in Friedrichshafen gebaute Zeppelin „Z.R. III“ am Himmel), viele Stationen der Reise (Abbildung 3), die Rückreise mit der „Karlsruhe“ sowie Ansichten der Innenstadt von Bremen. Die besuchten pharmazeutischen Betriebe sind leider nur in kurzen Passagen zu sehen, etwa die Mulford-Gesellschaft mit der dortigen Pferdehaltung. Vermutlich durfte aus rechtlichen Gründen sowie zur Wahrung von Betriebsgeheimnissen nicht gefilmt werden.
Im Besitz der Nachfahrin von Gruschwitz befand sich bis vor einigen Jahren das wohl einzige erhaltene Original dieses Filmes. Dank des Engagements des Cinemarchiv Film- und Videoclub Darmstadt konnte der Film mit Unterstützung des Corporate History Archiv der Merck AG sowie des Landesfilmarchivs in Bremen digitalisiert werden. Das Originalband musste aufgrund der Materialeigenschaften des leicht entzündlichen Nitrofilms zerstört werden.
Reiseberichte in der Apotheker-Zeitung
Zu den weiteren Objekten aus dem Nachlass von Gruschwitz zählt eine Kladde mit handschriftlichen Aufzeichnungen sowie maschinenschriftliche Manuskripte. Sie sind in großen Teilen identisch und stellen Vorarbeiten und Reintexte für Artikel und einen Bildvortrag, gehalten 1929, dar. Diese Texte finden sich auch in den Berichten der Apotheker-Zeitung, die teils noch während der Reise nach Berlin gesandt und gedruckt wurden (zum Beispiel AZ 1928, 632–636).
Hans Meyer bündelte bald nach der Rückkehr seine Eindrücke und Erkenntnisse zu den Drug-Stores und der Prohibition in einem Artikel (AZ 1928, 1005–1012). Auch hier sind Passagen dieser Manuskripte enthalten. Vermutlich standen Gruschwitz und Meyer in enger Verbindung beziehungsweise war Gruschwitz wohl intensiv an der Dokumentation und Berichterstattung zur Reise beteiligt. Ein dem Konvolut beiliegendes Sonderdruckexemplar enthalt eine Widmung Meyers.
Das Konvolut ergänzen Broschüren des Norddeutschen Lloyd mit Passagierlisten und Informationen zu den beiden Dampfern; ein Programmheft über den dreitägigen Aufenthalt in New York mit Unterkunft im renommierten Hotel Manger; teils nachkolorierte Fotohefte von Chicago, Boston und St. Louis mit Ansichten der im Vorjahr 1927 durch einen schweren Tornado zerstörten Stadt sowie zahlreiche meist nachkolorierte Postkarten. Ein Schatz sind auch die mehr als 80 erhaltenen Schwarz-Weis-Fotografien.
„Die drei Flieger“
Auf der zehn Tage dauernden Heimfahrt waren auch drei Berühmtheiten an Bord. Wenige Wochen vorher war dem Bremer Günther Freiherr von Hünefeld (1892 – 1929), seit 1923 Pressereferent des Norddeutschen Lloyd, zusammen mit zwei weiteren Piloten die erste Atlantiküberquerung mit einem Flugzeug von Europa nach Amerika gelungen! Nun waren „die drei Flieger“, wie der Filmabschnitt benannt wurde, auf der Rückreise nach Bremen. Natürlich ließen sich Mitglieder der Reisegruppe mit den Luftpionieren zusammen filmen (Abbildung 6).
Am 17. Juni 1928 kam der Dampfer in Bremerhaven an. Die Piloten wurden mit einer Flugschau und einer opulenten Parade in Bremen empfangen. Auch dies wurde in den Filmaufnahmen erfasst – sicher ein unvergessliches Erlebnis, das man unbedingt für die eigene Reiseerinnerung festhalten wollte. Die Aufnahmen in der Bremer Innenstadt machen den Film auch für das Landesfilmarchiv Bremen als Bildquelle zur Stadtgeschichte interessant.
Text: Claudia Sachße